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OSTWIND Aserbaidschan

Rauf Guliyev

Rauf Guliyev, 43 Jahre, aus Baku/Aserbaidschan

„Ich wurde 1980 in Baku, heute die Hauptstadt von Aserbaidschan, geboren. 2003 kam ich nach Würzburg und habe zunächst einen Sprachkurs gemacht. Da war ich gerade mal 22 Jahre alt.

Aufgewachsen bin ich also noch für elf Jahre in der Sowjetunion, die andere Hälfte meiner Zeit in Baku war Aserbaidschan ein unabhängiges Land. Allerdings kann man das Land und die Verhältnisse in Aserbaidschan in dieser Zeit nicht mit der gegenwärtigen Situation und Lage des Landes vergleichen. Deswegen fällt es mir heute so schwer beide Länder miteinander zu vergleichen, auch wenn ich einige Hintergrundinformationen zu Aserbaidschan habe. Damit kann ich einige der Entwicklungen dort nachvollziehen. Tatsächlich weiß ich mehr über Deutschland als über das gegenwärtige Leben in Aserbaidschan. Immerhin lebe ich hier seit 20 Jahren.

Mein Papa war Pilot. In der Sowjetzeit war er mit diesem Beruf sehr privilegiert. Bis 1988 lebten circa 2,5 Millionen Menschen in Baku. Niemand hat seine Haustür abgeschlossen. Im Sommer haben viele Menschen ihre Haustüren einfach durch ein Moskitonetz ersetzt. Die Menschen fühlten sich bis dahin sehr sicher in der Stadt. Nach 1988 hat sich die Lage schnell geändert; in einem Tempo wie man es sich nicht vorstellen konnte, vergleichbar mit der gegenwärtigen Situation in der Ukraine. Die wirtschaftliche Lage hat sich mit der Zerschlagung der Sowjetunion rasant verschlechtert – gerade auch für Aserbaidschan, das für die übrigen Sowjetrepubliken immer ein wichtiger Gas- und Öllieferant war. Die Erschließung neuer Märkte in Westeuropa war schwierig. Der Krieg um den Kaukasus wurde aus meiner Sicht geführt, um diese Verbindung zu unterbrechen – Nachbarstaaten von Aserbaidschan versuchten, diese Lieferungen in Richtung Westeuropa zu verhindern. Das wäre für Aserbaidschan ein Glücksfall gewesen, aber auch für einige Nachbarländer, die von den fälligen Transitabgaben profitiert hätten.

Baku war eine multikulturelle, vielfältige Stadt – das ist auch bis heute, trotz all der Konflikte, so geblieben. Im Stadtzentrum steht die Deutsche Kirche neben zwei Synagogen, neben einer orthodoxen Kirche und Moscheen. Es gibt einen Ba’hai-Tempel und auch Krishna-Anhänger haben einen eigenen Tempel. Es herrscht einfach eine große religiöse Vielfalt. Ich kenne keinen anderen Ort mit so viel religiöser Freiheit wie Baku. Dort leben auch viele Menschen aus zum Beispiel Deutschland, England oder Kanada, die dort ihr Geld verdienen. Das ist sehr multikulturell.

Es gibt viele Lieder aus der Sowjetzeit, die dieses Lebensgefühl vermitteln und die die Aserbaidschaner gerne hören. Zwar will niemand die Sowjetzeit zurück, aber diesem Lebensgefühl trauern die Menschen in Baku hinterher. Ich selbst hatte eine ziemlich glückliche Kindheit – wie sie auch meine Kinder in Deutschland aktuell haben. Nach 1988 war das Leben in Aserbaidschan eine ziemliche Katastrophe.

Aserbaidschan erlebte eine politische Krise. Es war dieser von langer Hand organisierte Krieg mit dem Nachbarland Armenien – ein Konflikt, den beide Länder nicht wollten. Bis heute leben immer noch viele Armenier in Aserbaidschan. Das Land war ziemlich führungslos, wirtschaftlich ging nichts, um die Sicherheit stand es schlecht. Die Russen wollten weiterhin die Kontrolle im Land haben.

Warum und wie es dazu kam, habe ich erst viel später verstanden. Wie es sich anders hätte entwickeln können? Was hätte man anders machen können? Hätte, hätte … Fahrradkette. Die Entwicklung ist so, wie es war. Es gibt in der Region – auch wenn man auf die Nachbarländer schaut – keine demokratischen Strukturen. Dabei war Aserbaidschan bei seiner Gründung im Mai 1918 eine demokratische Republik – bis zu seiner Zerschlagung durch die Bolschewiki im April 1920 und die Eingliederung in die Sowjetunion zwei Jahre später.

Als Jugendlicher habe ich mich mit diesen Fragen nicht beschäftigt. Ich habe mich für die Pfadfinder engagiert und habe das Land vertreten – etwa bei einer UNESCO-Konferenz in Paris, als ich plötzlich neben dem französischen Präsidenten Jacques Chirac saß. Ich hatte Aserbaidschan auf einem Jugendforum vertreten, und weil kein offizieller Vertreter der Regierung nach Paris gekommen war, hatte mich unsere Botschafterin in Paris gebeten, unser Land zu vertreten. So war das (lacht).

Meine Eltern leben immer noch in Baku. Mein Vater war lange Pilot. Er ist noch nicht pensioniert, arbeitet aber heute als Luftfahrtinspekteur. Ich kam für mein Studium nach Deutschland, nicht aus politischen Gründen. Die Menschen mochten mich – ein wenig zu sehr vielleicht. Ich hatte ein Stipendium für die Luftfahrtakademie. Nach meinem Studium hatte ich dort sofort einen Job, was auch mit dieser Ausbildung nicht selbstverständlich war. Ohne Kontakte ging normalerweise nichts. Nach Würzburg bin ich gekommen, weil ich mich – möglichst in einem anderen Land – weiterbilden und meine interkulturelle Kompetenz vertiefen wollte. Seinerzeit war ich oft für die Pfadfinder in der Ukraine auf der Krim. Dort gab es ein regionales Büro, in dem ich oft war, um Treffen etc. zu organisieren.

Skyline von Baku, der Hauptsadt von Aserbaidschan

 

Aber tief in mir gab es damals schon dieses Gefühl, dass ich in demokratischen Strukturen leben will und meine Kinder in demokratischen Strukturen aufwachsen sollen. Als ich mit dem Sprachkurs in Würzburg anfing, hatte ich sofort das Gefühl, dass mich die Menschen in diesem Land verstehen – und das bereits bevor ich selbst Deutsch gesprochen habe. Es war mir sofort klar, wie man sein Leben hier lebt, und das stimmte mit meinen eigenen Werten überein. Über meine Heimat Aserbaidschan kann ich das nicht sagen. Ich wurde zwar geliebt – aber es schwelte auch immer ein Konflikt. Die Meinungen gingen immer auseinander. Mit meiner Meinung stand und stehe ich oft allein, auch in Diskussionen mit meinen Eltern. Egal, ob wir über Kleinigkeiten oder die große Politik streiten. Immer geht die Meinung auseinander. Es ist schon so, dass ich mich in Deutschland mit vielen Menschen sofort verstehe. Ich fühle mich hier einfach wohl.

Wenn ich in Aserbaidschan unterwegs bin, fühle ich auch immer noch diese Zuneigung der Menschen für mich. Als ich im Sommer 2016 an einer Bushaltestelle stand und auf einen Bus wartete, kam ein älterer Herr mit einen Stuhl und sagte zu mir: „Setz Dich! Es ist nicht gut, wenn Du bei dieser Hitze stehst.“ Ich liebe die deutsche und die aserbaidschanische Gesellschaft. Man fühlt sich dort wohl, wo einen die Menschen verstehen und man im Gegenzug aber auch die Menschen versteht, die dort leben. Aber es sollte auch die gesellschaftliche Wahrnehmung stimmen – wie etwa das Zusammenleben von Familien sowie Männern und Frauen organisiert ist. Und die Vorstellungen in Aserbaidschan von denen in Deutschland widersprechen sich nicht. Deswegen hatte ich auch keinen Kulturschock als ich nach Deutschland kam. In Würzburg sollte ich einmal einen Aufsatz zum „Kulturschock“ schreiben. Aber ich wusste nicht, was ich da schreiben soll. Mein Tischnachbar damals kam aus Nigeria. Und als er aus dem Flugzeug in Frankfurt ausstieg, hat er zum ersten Mal in seinem Leben Schnee gesehen. Das war für ihn ein Kulturschock. Der kam für mich, als ich 2009 von Bayern hier in die Region gezogen bin. Ich dachte immer Deutschland sei wie Bayern. Aber das stimmt nicht (lacht). Aber zwei Tage später war der auch wieder vorbei. Und ehrlich gesagt: Die Mentalität der Menschen in dieser Region ähnelt der aserbaidschanischen Mentalität mehr als die der Bayern. Die Menschen, die hier leben, sind herzlich und oft auch naturverbunden.

Ob die Deutschen etwas von den Aserbaidschanern lernen können? Meine Meinung ist: Gar nichts! Warum das so ist? Ich war einmal mit einem Bergsteigerverein vier Wochen mit Rucksack unterwegs. Wir hatten einen Plan, wollten ein bestimmtes Ziel erreichen. Und wir hatten einen Essensplan – wir mussten unser Essen für die Tour selbst tragen. Und wenn man dann Pausen unterwegs macht, besteht die Gefahr, dass das Essen nicht reicht. Dann trafen wir einen Schäfer mit seiner großen Schafherde. Er hatte seit Monaten keinen Menschen mehr gesprochen. Er lud uns ein, bei ihm zu bleiben. Er wollte für uns ein Lamm grillen. Das war im Vorgebirge und es hat die ganze Zeit geregnet. Das Angebot war sehr verlockend. Aber wir lehnten es ab. Er fragte: Warum? Wir: Weil wir dann unser Etappenziel nicht rechtzeitig erreichen. Er verstand nicht, dass wir uns an unseren Plan halten wollten. Wir haben lange mit ihm diskutiert, und er hat bis zum Schluss nicht verstanden, weshalb wir weiter mussten. Ein Jahr später erleben wir mit dieser Gruppe eine ähnliche Situation. Wir fragten einen jungen Mann, wie lange es noch dauert, bis wir einen bestimmten Punkt erreicht haben. Mit der Karte konnte er nichts anfangen. Aber kannte den Punkt, zu dem wir wollten. Wir fragten ihn: „Wie lange dauert das?“ Er: „Eine Stunde.“ Am Ende haben wir zehn oder 15 Stunden gebraucht, bis wir den Punkt erreicht haben. Einige Wochen später haben wir den jungen Mann wieder getroffen. Wir fragten: „Wie konntest Du sagen, dass wir bis zu dem Punkt eine Stunde unterwegs sein würden?“ Er: „Ich brauche für die Strecke eine Stunde.“ Wir: „Wie machst Du das?“ Er: „Mit dem Pferd.“ Der Unterschied war, dass wir zu Fuß unterwegs waren und er auf dem Pferd. Jeder rechnet halt in den Einheiten, die er kennt. Später waren wir mit einem reichen Unternehmer unterwegs, der die Tour kaum bewältigen konnte. Wir trafen einen kleinen Jungen, der auf einem Esel unterwegs war. Der Unternehmer fragte den Jungen, ob er ihn mit dem Esel zu seinem Auto bringen könne. Der Junge lehnte das ab. Er wollte seinem Vater, einem Schäfer, das Mittagessen bringen. Er ließ sich für kein Geld der Welt kaufen. Das Leben in der Hauptstadt, das Landleben – das sind verschiedene Welten. Die Menschen leben in einem unterschiedlichen Rhythmus, haben ein abweichendes Zeitgefühl – und haben damit verknüpft eine unterschiedliche Vorstellung von dem was richtig und was falsch ist. Aber jeder ist glücklich, macht aus seiner Sicht alles richtig.

Für Deutschland und Aserbaidschan gilt das genauso. Es gibt ein völlig voneinander abweichendes Zeitgefühl. Und auch die Vorstellung über das Wachsen des Wohlstands weichen voneinander ab. Was wichtig ist: Die Entwicklung von kulturellen Kompetenzen. „Gar nichts“ war nicht wirklich ernstgemeint – so halb ironisch. Man macht in beiden Ländern auch einfach manches unterschiedlich: Aserbaidschanische Eltern investieren viel mehr Zeit in ihre Kinder als deutsche Eltern. In Zentraleuropa hat man Kinder, aber auch eine eigene Idee, was man im Leben erreichen will. Auch sind die Deutschen sehr herzlich. Das ist wirklich vergleichbar mit der Herzlichkeit in Osteuropa. Aber die Deutschen sind direkter. Sie können „Nein“ sagen. Sie sagen, was sie denken. Das finde ich gut.

Ein Mensch in Aserbaidschan ist vielleicht herzlich, sagt aber nicht, was er denkt. Wie ist das denn? Das ist etwas, was Aserbaidschaner von Deutschen lernen können. Gemeinsam haben die Menschen in beiden Ländern, dass sie Ruhe suchen. Nur auf unterschiedlichen Wegen. In Aserbaidschan wollen die Menschen sich im Teehaus treffen und in Ruhe miteinander sprechen miteinander Zeit verbringen – gerade im Vergleich zum Biergarten ist es im Teehaus immer ruhig. Deutsche arbeiten auf ihren Ruhestand hin, überlegen immer, wie sie im Alter mit ihrem erworbenen Vermögen klarkommen. Strategisch betrachtet, überzeugt mich die deutsche Einstellung. Aber ich kann auch die andere Sichtweise auf das Leben nachvollziehen.“