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OSTWIND BOSNIEN-HERZEGOWINA

Belma Hajdarevic

Belma Hajdarevic, 26 Jahre, aus Zvornik/Bosnien-Herzegowina

„Meine Geschichte in Deutschland beginnt vor knapp 30 Jahren. Meine Eltern waren Kriegsflüchtlinge, die aus dem ehemaligen Jugoslawien kamen. Sie mussten innerhalb von wenigen Stunden ihre Koffer packen, das Land und alles, was sie dort hatten, verlassen. Sie gingen dann erstmal an einen Ort, von dem sie nicht wussten, was sie erwartet. Das war für sie nicht einfach. Das waren keine leichten Koffer, sie ließen Koffer voll mit Ambitionen, Träumen und Zielen hinter sich. Sie mussten von einem Leben Abschied nehmen, von dem sie wussten, dass es nie mehr so sein wird, wie es einmal war – selbst wenn sie eines Tages nach Zvornik zurückkehren würden. So sind sie schließlich in Deutschland gelandet.

Ich wurde 1997 in Deutschland geboren, gehöre also zur ersten Nachkriegsgeneration. Direkt habe ich damit also nichts zu tun, aber indirekt hat mich die Geschichte meiner Eltern sehr geprägt. Zwei Jahre nach meiner Geburt sind meine Eltern wieder zurück nach Bosnien gezogen, nach Zvornik, eine Stadt im Nordosten von Bosnien-Herzegowina, an der Grenze zwischen Bosnien und Serbien. Ich bin in Bosnien aufgewachsen, neben zwei Menschen, die ihr Leben in Bosnien wieder von ganz Vorne aufbauen mussten. Das war für sie nicht einfach. Sie mussten sich wieder in eine Gesellschaft integrieren, eine Rolle finden, einen Status aufbauen. Aber auch die Rolle als Eltern war für sie keine einfache Aufgabe, aber sie haben es gut gemeistert. Aber dieses Leben hat mich sehr geprägt. Ich bin dafür sehr dankbar. Auch wenn es nicht immer wirklich schön war. Meine Eltern, mein Bruder und ich – wir haben dadurch vieles gelernt, was uns bis heute prägt.

Meine Eltern haben vieles verloren – ich spreche nicht von materiellen Dingen. Mir geht es um ihr Schicksal, den Verlust von Zielen und Träumen, Perspektiven, die plötzlich einfach weg waren, die ihnen niemand zurückgeben konnte. Und dann haben sie wieder ihre Kraft gesammelt, haben wieder von Vorne angefangen. Das war für sie nicht einfach.

Aufgewachsen bin in Zvornik. Die Stadt ist ein wenig mit Saarburg vergleichbar. Sie liegt an der Drina. Das ist ein sehr bekannter Fluss, über den viel geschrieben wurde. Sie ist der kälteste Fluss in Bosnien. Ich habe darin mit drei Jahren das Schwimmen gelernt. Meine Eltern sind zusammen mit mir in den Fluss gesprungen. Sie meinten wohl: „Das wird schon.“ Glücklicherweise hat das funktioniert. Oberhalb von Zvornik gibt es eine Burg. Eine Brücke verbindet hier Bosnien und Serbien, verbindet also die beiden Staaten/Völker miteinander. Für mich symbolisiert sie aber auch die menschlichen Bedürfnisse, weil diese Verbindung für immer da sein soll. Als Kind haben mir meine Eltern viel über die Bedeutung der Stadt, der Drina und über die Geschichte dieser Verbindung erzählt. Als Kind habe ich da nicht wirklich viel verstanden. Aber als ich dann nach Saarburg kam, konnte ich plötzlich viele Dinge nachvollziehen. Viele Assoziationen funktionieren hier auch: Der Fluss, die Burg und die Brücke – das ist schon sehr ähnlich. Das hat mich direkt an meine Heimat erinnert.

Stari most, Brücke in Mostar

 

Wir sind dann wieder nach Deutschland zurückgekommen; zum Glück nicht aus den gleichen Gründen. Hier gab es einfach eine bessere Lebensperspektive für meine Eltern, meinen Bruder und mich. Und immer werde ich gefragt: „Hast Du erst dann Deutsch gelernt?“ Ja, habe ich wirklich erst, als wir 2015 zurück nach Deutschland kamen.

Ich habe sehr, sehr schöne Erinnerungen an Bosnien. Ich habe dort für mich etwas sehr Wichtiges gelernt: Bescheidenheit. Die Bosnier, Ex-Jugoslawen haben so einen besonderen Lebensstil. Sie brauchen nicht viel, um glücklich zu sein. Das ist der Schlüssel zu dem, was in uns steckt, dass die kleinen Dinge im Leben Freude machen. Bevor ich nach Deutschland kam, wurde mir über die Deutschen immer gesagt, sie seien etwas kälter, etwas distanzierter, zeigen weniger ihre Gefühle und Emotionen. Das würde ich aber nicht so sagen: Hier zeigen die Menschen ihre Emotionen und Gefühle auf eine andere Art und Weise. Um das zu verstehen, braucht es Geduld. Und so habe ich hier auf meinen persönlichen Weg gelernt, dass die anderen Geduld für mich brauchen, genauso aber auch ich für sie. Das ist so eine Art Zusammenspiel.

Meine erste wirkliche Erinnerung an Bosnien ist, wie ich als Grundschülerin dank meines tollen Kunstlehrers an einem Projekt teilgenommen habe. Die Aufgabe war: „Nutze den Müll deiner Stadt und mache ihn zu Kunst.“ Mit den Kunstwerken aus „Müll“ aus der Drina und der Zvornik haben wir verschiedene nationale Kunstwettbewerbe gewonnen. Als Preis gab es etwa eine Reise nach Budapest, wo wir die Kunstmuseen besuchen durften. Wir konnten uns so ein Bild machen, wie Mitteleuropa in Sachen Kunst denkt. Bosnien ist meine Heimat. Da besteht eine Verbindung, die für mich unerklärbar ist. Aber da steckt mehr drin, nicht nur „Heimat“. Dazu gehört auch das nationale Erbe, die Lebenserfahrung. Das sind die grundlegenden Bausteine meines Lebens, die ich dort mitbekommen haben, die mich zu der Person gemacht haben, die ich heute bin. In Bosnien habe ich angefangen zu sein, dort hat sich meine Identität entwickelt – auch dank meiner Eltern. Die Bosnier sind sehr fröhliche und fleißige Menschen, die eine gewisse Leichtigkeit bewahrt haben. Sie vertrauen dem Leben. Sie schauen immer, wie es weitergehen könnte, egal wie schwierig die Situation ist. Irgendwie finden sie immer Lösung, um ein Problem zu lösen. Sie sind ein Stück weit kreativ. Aus dem Balkan kommen auch namhafte Erfinder, beispielsweise Nikola Tesla.

Als wir wieder nach Deutschland kamen, hatte ich das Glücke, dass meine Eltern Deutschland schon kannten. Als sie als Kriegsflüchtlinge nach Deutschland kamen, waren sie in meinem Alter wie ich 20 Jahre später, als wir wieder hierher kamen. Ich war jung, in einer Phase in der ich erstmal an mir arbeiten musste. Man sagt so schön: Jugend ist das Beste, was es in einer menschlichen Entwicklung gibt. Als Pädagogin sehe ich das inzwischen aber anders: Jugend kann sehr schwierig sein, auch sehr philosophisch. Am Anfang war es eine Reizüberflutung, ich musste mich zunächst in der Gesellschaft zurechtfinden. Hier gibt es verschiedene Kulturen, verschiedene Religionen, Normen und Werte. Hier leben so viele Menschen, die anders sind. Da war es schwierig, seinen Platz zu finden. Es war schwierig, sich nicht zu verlieren, den Fokus beizubehalten, die eigenen Ziele im Blick zu behalten. Die Kunst, sich nicht zu verlieren, an seiner Identität zu arbeiten, das war schwierig. Gerade wegen der vielen Einflüsse, die auf einen einprasseln. Hier die Balance zu finden, das habe ich geschafft. Auch dank vieler Menschen, die ich auch hier kennengelernt habe und die mich unterstützt haben. Aber auch meine Eltern haben mich immer unterstützt. Sie haben mir als Teenager bewusst gemacht, dass Heimat in mir sein muss. Egal, wo man lebt, Körper und Geist müssen eine eigene Zufriedenheit entwickeln. Man muss seine innere Ruhe finden. Und die Heimat, die man auf diese Art entwickelt, die kann einem nicht einfach so weggenommen werden. Nur weil du in ein anderes Land wechselst, geht dieses Gefühl nicht verloren. Wenn ich nach Bosnien fahre, fahre ich nach Hause. Aber wenn ich dann wieder in Deutschland bin, bin ich zu Hause. Dieses Gefühl ist nur, weil die Heimat in mir ist – eine konstante Verbindung, die man selbst erschaffen muss. Es geht darum, seinen eigenen Weg zu finden. Dafür muss man sich auch mit seiner eigenen Persönlichkeit auseinandersetzen. Was bin ich? Wer bin ich? Was möchte ich? Was will ich erreichen? Und: Wo finde ich meinen Platz in dieser Gesellschaft? Was interessiert mich? Was bewegt mich?

Die Kunst hat auf diesem Weg für mich eine große Rolle gespielt. Um Kunst zu machen, muss man in einem kreativen Moment oft allein sein. Allein mit seinen eigenen Gedanken, seinen eigenen Gefühlen und Vorstellungen. Man muss sich sehr gut, mit seiner eigenen Persönlichkeit auseinandersetzen. Das ist ein innerer Prozess, der da stattfindet. Diese Momente sind für mich oft wertvoller als das, was man am Ende erschafft, was ich als Künstlerin schaffe. Die Kunst hilft mir, Vorgänge und Erfahrungen emotional zu verarbeiten; meine Sorgen und meine Ängste. Jeder kennt das, Kunst ist für mich ein Filter mit dessen Hilfe ich diese Gefühle kreativ verarbeite. Sie hilft mir, meine Gefühle zu hinterfragen: Warum denke ich so? Warum fühle ich das so? Warum werde ich dadurch inspiriert? Sie hilft ein wenig ins Unbewusste einzutauchen? All das hat viel mit meiner Entwicklung zu tun, mit meiner Kindheit, mit meiner Familiengeschichte, mit meinen Stärken, aber auch Schwächen. Das ist ein nie endender Prozess. Deshalb habe ich meinen Platz in der Kunst gefunden. Da kann ich „Ich“ sein.

Schon als Kind habe ich eine Kunstschule besucht und verschiedene Techniken gelernt; auch verschiedene Ansätze, wie man Kunst machen kann. Als Teenager habe ich mich der Malerei gewidmet. Das mach ich immer noch: Abstrakte Kunst. Heute ist das eher ein Mischmasch aus Malerei und Konstruktion, oft mit verschiedenen Materialien wie Ton oder Mosaik. Hier habe ich mich weiterentwickelt, auch künstlerisch. Ich habe schon viel und erfolgreich ausgestellt, oft auch in Bosnien-Herzegowina. Das zeigt mir auch, dass sich andere dafür interessieren, was ich mache. Ich stoße auf viel Akzeptanz und Anerkennung. Und gerade diese Anerkennung tut einer jungen Person gut.

Es geht mir um Wertschätzung, gerade auch für Menschen, die „anders“ sind. Ich arbeite viel mit und für Menschen mit Einschränkungen. Da ist es wichtig, das bestimmte Verhaltensweisen, nicht sofort in einer Schublade abgelegt werden. Quasi abgestempelt werden im Sinne von: „Der/die ist nicht so wie wir, nicht so, wie wir das wollen“. Sie sollen wertgeschätzt werden, so wie sie sind. Anders zu sein, ist nicht einfach. Das habe ich auch so empfunden, als ich nach Deutschland kam. Am Anfang konnte ich nur auf Englisch mit anderen kommunizieren. Nicht jeder kannte Englisch, nicht jeder wollte mit mir Englisch sprechen. Das war für mich aber nie ein Problem. Schon früh habe ich gelernt resilient – also widerstandsfähig – zu sein, immer wieder aufzustehen und nach vorne zu schauen. Mir ist aber auch bewusst, dass das viele Menschen nicht können. Das erlebe ich immer wieder, auch als qualifizierte Flüchtlingsbegleiterin. Ich weiß, dass das für einige ein schwieriger und sehr schmerzhafter Prozess ist, der einen für sein Leben prägt – egal, wie man sich entwickelt, auch im negativen Sinne.

Für meinen Beruf muss man die Menschen fühlen, man muss empathisch sein. Ich habe viele Menschen getroffen, denen ich als Flüchtlingsbegleiterin gegenüber sass, die mir ihre Geschichte erzählt haben. Oft hilft es schon, diese Menschen zu umarmen, zu signalisieren, dass man sie verstehe oder dass man für sie da sei. Diese Gefühle nachzuvollziehen ist sehr wichtig. Ich glaube, dass diese Welt besser funktionieren würde, wenn jeder dazu in der Lage wäre, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen. Wichtig ist, die Situation des anderen zu verstehen, nicht in Klischees zu denken; sich selbst ein Bild von dem anderen zu machen, ohne auf Bilder anderer zurückzugreifen. Darum geht es auch in meiner Arbeit. Egal, wer vor mir steht, es ist ein Mensch mit Emotionen, mit Gefühlen, mit einer Lebenserfahrung, die anders als meine ist, aber genauso wichtig und wertvoll für diese Welt. Es geht mir darum, dass wir den Versuch wagen, den anderen zu verstehen – über ihre Gedanken, ihre Vorstellungen, ihre Sorgen und Ängste zu sprechen. Das erwarte ich von meinen Gegenübern, also dass man den anderen wirklich ernst nimmt. Kurz: Weniger schwätzen, dafür mehr Empathie. Gerade an Empathie mangelt es heute oft. Das spiegelt sich auch oft in Familien wider. Mein Eindruck ist, dass je vermögender eine Gesellschaft ist, desto weniger empathisch ist sie – zumindest, wenn ich meine Erfahrungen aus Deutschland mit denen aus Bosnien vergleiche. In Deutschland koppeln sich einzelne oft ab und gehen dann ihren eigenen Weg. Empathie ist nicht angeboren, das ist auch eine Erziehungssache.“